Zwischen Licht und Stille: Die visuelle Poesie des Sylvain Blanchoud
Yvonne Roos
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16.07.2025
·
22 min Lesezeit

Kurze Zusammenfassung

Zwischen Stille und Bewegung, Licht und Schatten: Der Fotograf Sylvain Blanchoud versteht es, Alltägliches in poetische Bildwelten zu verwandeln. Im Interview spricht er über die Magie des Zwischenraums, seine Liebe zur Natur, den Einfluss von Architektur – und warum er sich selbst als „Interprète-ographe“ (ein Kunstwort, das sich aus Interprète (frz. für Übersetzer) und Photographe (frz. für Fotograf) zusammensetzt.) bezeichnet. 

Vom Moment zum Motiv: Fotograf Sylvain Blanchoud im Interview

Bild 1: Sylvain Blanchoud, Vue d'un pont du centre-ville de Bern, Suisse, 2024, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 1: Sylvain Blanchoud, Vue d'un pont du centre-ville de Bern, Suisse, 2024, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.

Lieber Sylvain. Vielen Dank, dass du dem Interview zugestimmt hast.

Sylvain Blanchoud, was ist dein persönlicher Anspruch an deine fotografische Arbeit? Und wie verstehst du die Fotografie innerhalb der Kunst – eher als dokumentarisches Medium, als poetisches Werkzeug oder etwas ganz anderes?

Antwort:

Liebe Yvonne, liebes art24-Team – die Freude ist ganz auf meiner Seite! Es ist mir eine Ehre, an diesem Interview teilzunehmen. Mein wichtigstes Anliegen ist es, mein Bestes zu geben, damit die visuelle Interpretation, die ich den Menschen vorschlage, möglichst nah an das herankommt, was mir das Motiv im Moment der Aufnahme eingegeben oder vermittelt hat. Und dass das Ergebnis dabei so künstlerisch wie möglich ist – sei es durch das Spiel mit Farben, Schatten, Licht oder Bewegung. Ich versuche, die Banalität des Gesehenen zu vermeiden oder abzumildern – das ist für mich essenziell. Wenn ich eines meiner Bilder als banal empfinde, kann ich es nicht zeigen – das wäre mir schlicht zu schwer.

Übrigens – und das mag Puristen vielleicht erschrecken –, ich sehe mich selbst als eine Art „Interpretograph“. Ja, das ist ein erfundener Begriff, aber ich finde, er beschreibt meinen Zugang zur Fotografie recht gut. Für mich ist Fotografie wie ein Schweizer Taschenmesser: Sie kann informieren und zum Nachdenken anregen, wie bei Pressefotografien; sie kann Wissen vermitteln – etwa über Tiere, Wissenschaft oder Kulturen. Sie kann zum Lachen bringen, zu Tränen rühren oder nostalgische Erinnerungen wachrufen. Sie kann auch Wut entfachen – oder Liebe: zu einem Menschen, einem Tier, einem Ding. Sie kann helfen, sich selbst zu akzeptieren, besser kennenzulernen, sich mit sich zu versöhnen.

Ja, Fotografie kann ein poetisches Mittel sein – um Gefühle und Stimmungen festzuhalten oder das, was sich vor unseren Augen abspielt, auf besondere Weise zu veredeln. Poesie im Bild kann den Alltag oder die Nachrichten weniger hart, weniger unerträglich erscheinen lassen. Sie erinnert uns daran, dass es trotz allem Hoffnung, Menschlichkeit, Schönheit und Licht gibt. Fotografie ist ein Multitalent – fähig zu Wundern, zu Überraschungen – und genau deshalb liebe ich sie so sehr. Manchmal macht mir ihre Unermesslichkeit sogar ein wenig Angst.

Bild 2: Sylvain Blanchoud, Moment de pause bien mérité pour une mouette, Vaud, 2020, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 2: Sylvain Blanchoud, Moment de pause bien mérité pour une mouette, Vaud, 2020, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 3: Sylvain Blanchoud, le vieil homme et la mer, Sardaigne, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 3: Sylvain Blanchoud, le vieil homme et la mer, Sardaigne, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.

 

Ich habe mir deine Arbeiten angeschaut. Als Kunsthistorikerin versucht man natürlich, Muster zu erkennen oder herauszufinden, was die Bilder besonders ausmacht. Dabei ist mir aufgefallen, dass viele deiner Werke verschiedene Transportmittel, ob auf dem Wasser, auf den Schienen oder den Strassen zeigen.

In deinen Bildern scheint Bewegung oft nur angedeutet – als wäre sie gerade geschehen oder stehe bevor. Etwa die Fotografie mit den Tramschienen ohne Tram («Vue d'un pont du centre-ville de Bern, Suisse»). Gleichzeitig strahlen viele Szenen eine tiefe Ruhe aus. Die Boote, die am Hafen angelegt haben oder die Fischer, die ruhig und geduldig auf einen Fang im offenen Gewässer warten («Moment de pause bien mérité pour une mouette, Vaud» und «le vieil homme et la mer, Sardaigne»). Natürlich handelt es sich einerseits um eine technische Bedingung der Kamera. Dennoch wollte ich dich folgendes fragen:

Was reizt dich an diesem Spannungsfeld zwischen Bewegung und Stille – und wie nutzt du die Kamera, um diesen Moment des Dazwischen einzufangen?

Antwort:

Ja, ich fotografiere gern Verkehrsmittel – und ihre Passagiere, die manchmal aus den entlegensten Teilen der Welt stammen. Ich liebe Fahrzeuge mit besonderen Designs, solche, die mich faszinieren oder an meine Kindheit erinnern – an das Verkehrshaus in Luzern oder an Familienausflüge. Ich habe eine Schwäche für Oldtimer, die heute noch fahren oder fahren dürfen. Sie scheinen mir, wenn sie sprechen könnten, tausend Geschichten zu erzählen: von dem, was sie gesehen, gehört und ausgehalten haben. Und diese Fahrzeuge bringen mir auch Menschen, Berufe und Leben vor die Linse, die mir sonst womöglich entgangen wären.

Bewegung – ja, auch sie zieht mich an. Ich versuche, sie leicht, dezent, fein dosiert einzusetzen – und sie an der richtigen Stelle im Bild zu platzieren. Das gelingt mir nicht immer; es ist oft heikel und komplex. Mal will ich eine mechanische Bewegung andeuten, mal eine menschliche Geste, ein andermal etwas, das an fallende Blätter erinnert. Ich vermeide harte, abrupte, brüchige Bewegungen.

Das Zusammenspiel – oder Gegenspiel – von Bewegung und Stille fasziniert mich. Die Szene mit dem sardischen Fischer ist ein gutes Beispiel: Er ist in einem digitalen Moment festgehalten – aber dieser Moment setzt viel voraus. Vorbereitung, innere wie äussere Bewegung. Und auch die Bewegung der Natur – das Meer, das ihn aufnahm und sein „Ballett“ akzeptierte. Alles geschah in Stille. Ich dachte an Hemingway, an Santiago – und hoffte, sein Ausflug möge besser enden als der des alten Mannes. Ich begleitete ihn vom präzisen, fast lautlosen Vorbereiten am Hafen über das Ablegen bis zum Moment, als er den Motor stoppte, die Netze warf – und nur noch er, der Himmel und das sanfte Plätschern der Wellen übrig blieben. Da wusste ich: Jetzt ist der richtige Moment, um auszulösen.

Auch die Menschen in deinen Bildern strahlen auf mich eine besondere Ruhe aus. Sie flanieren («Promeneur pensif dans les rue de Naples»), sonnen sich («La dolce vita, Posilippo, Napoli»), sitzen und ruhen sich aus («La dame au parapluie, Lausanne, Suisse» oder «La penseuse, Genève»), oder sie geniessen die Aussicht («Vue du lieu de promenade, Neuchâtel»). Viele deiner Bilder zeigen also Menschen in kontemplativen, fast meditativen Momenten.

Bild 4: Sylvain Blanchoud, Promeneur pensif dans les rue de Naples, 2016, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 4: Sylvain Blanchoud, Promeneur pensif dans les rue de Naples, 2016, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 5: Sylvain Blanchoud, La dolce vita, Posilippo, Napoli, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 5: Sylvain Blanchoud, La dolce vita, Posilippo, Napoli, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.

Was interessiert dich an diesen intimen Szenen des Alltags? Und inwiefern siehst du sie als Spiegel einer bestimmten Kultur oder Gesellschaft? Wie wichtig ist das Nachdenken und für sich im Alltag?

Antwort:

Ich fühle mich zu solchen Szenen besonders hingezogen – vor allem dann, wenn ich mich selbst im Trubel des Alltags befinde, etwa zu Stosszeiten in der Stadt, wenn die Menschen massenweise aus den Büros strömen. In diesen Momenten halte ich Ausschau nach jemandem, der nicht Teil dieses geschäftigen Balletts ist. Jemandem, der scheinbar gegen den Strom schwimmt. Der anders schaut, anders lebt, sich in einem anderen Rhythmus bewegt. Jemandem, der sich entzieht – dem Tempo, der Erwartung, dem Lärm.

Und erstaunlicherweise begegnet mir das oft. Es beruhigt mich – denn es zeigt, dass es immer noch Menschen gibt, die die Welt nach ihrer eigenen Zeit und ihren eigenen Prioritäten wahrnehmen. Trotz allem, was uns unsere westliche Gesellschaft aufzwingen will. Ja, ich sehe in diesen Momenten einen Spiegel unserer Zeit – und vielleicht auch einen stillen Widerstand gegen sie. Sie erinnern mich daran, wie wertvoll es ist, sich Zeit zu nehmen. Um zu sehen, zu hören, zu empfinden – auch heute noch.

Bild 6: Sylvain Blanchoud, La dame au parapluie, Lausanne , Suisse, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 6: Sylvain Blanchoud, La dame au parapluie, Lausanne , Suisse, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 7: Sylvain Blanchoud, La penseuse, Genève, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 7: Sylvain Blanchoud, La penseuse, Genève, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 8: Sylvain Blanchoud, Vue du lieu de promenade, Neuchâtel, 2022, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 8: Sylvain Blanchoud, Vue du lieu de promenade, Neuchâtel, 2022, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.

Die Nacht taucht in deinem Werk eher selten, dafür aber sehr prägnant auf – etwa in «Entre chiens et loups» oder «La Pluie le soir sur Genève».

Was macht für dich die fotografische Arbeit bei Nacht reizvoll – und worin bestehen dabei die gestalterischen wie technischen Herausforderungen?

Bild 9: Sylvain Blanchoud, Entre chiens et loups, Neuchâtel, 2025, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 9: Sylvain Blanchoud, Entre chiens et loups, Neuchâtel, 2025, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.

Antwort:

Die Nachtfotografie ist für mich etwas Besonderes und ein wenig Abseitsstehendes. In der Nacht zu fotografieren erlaubt es mir, Orte, die ich zu kennen glaubte, neu oder anders zu entdecken – aus einem völlig neuen Blickwinkel. Dabei kann ich ihnen eine künstlerische Note verleihen, an die ich bei Tageslicht vielleicht gar nicht gedacht hätte oder mich nicht getraut hätte, sie umzusetzen. Auch die Wetterbedingungen können einen nächtlichen Ausflug völlig durcheinanderwirbeln und ihn in etwas Mystisches oder Magisches verwandeln – und das liebe ich.

Die Dunkelheit erlaubt es mir, Orte, die tagsüber belebt sind und manchmal belanglos wirken, in künstlerische oder filmische Szenen zu verwandeln, die selbst die Stammgäste überraschen könnten. In der Nacht lassen sich etwa verschiedene Farbstimmungen der öffentlichen Beleuchtung entdecken – sie kann warm, kalt, gedämpft, diffus oder nur angedeutet sein. Auch Schatten nehmen nachts neue Formen an, obwohl ich glaubte, sie bereits zu kennen. Die Dämmerung gibt mir den Mut, mich an künstlerische Ansätze und Genre-Mischungen heranzuwagen, die ich mir sonst vielleicht nicht erlauben würde. Ich habe in der Nacht weniger Angst, etwas zu riskieren. Die Ruhe des Moments erlaubt es mir, mich leichter in das Bild zu vertiefen und in das, was ich ausdrücken und den Menschen zeigen möchte.

Manchmal schleicht sich auch Angst in meine nächtlichen Streifzüge ein, überraschend, und dann fotografiere ich hektischer, frenetischer, abgehackter – weniger durchdacht, eher wie im Alarmzustand. Solche Bilder teile ich in der Regel nicht oder behalte sie lieber nicht.

Die Nachtfotografie ist in meinem Kopf eng mit dem Kino und der Literatur verbunden – zwei Bereiche, die mich ebenfalls faszinieren. Die Nacht erlaubt es mir, diese drei Welten leichter miteinander zu verschmelzen, und ich bekomme davon nie genug. Die kreativen und technischen Herausforderungen entstehen meist durch launisches, wechselhaftes Wetter – oder durch die Technik, die bei Kälte oder Feuchtigkeit nicht immer mitspielt. Ich empfinde die Nachtfotografie daher als bereichernd und äusserst reizvoll.

Bild 10: Sylvain Blanchoud, La pluie le soir sur Genève, Suisse, 2025, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 10: Sylvain Blanchoud, La pluie le soir sur Genève, Suisse, 2025, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.

Deine Werke oszillieren auch oft im Spiel zwischen Architektur, Licht und Schatten. Dabei fängst du Orte ein, als würden sie Geheimnisse bergen. Deine Bilder offenbaren eine besondere Beziehung zwischen Mensch, Raum und Struktur.

Was interessiert dich an der Beziehung des Menschen zur Architektur? Und welche erzählerische Kraft entdeckst du im Spiel von Licht und Schatten?

Antwort:

Ich liebe das Zusammenspiel von Architektur, Licht und Schatten – vor allem, wenn der Mensch als stiller Protagonist dazukommt. Seine Präsenz in meinen Bildern dient oft als Erweiterung oder Gegenpol zur Struktur. Manchmal habe ich das Gefühl, ein Ort, ein Gebäude, eine Szene verberge ein Geheimnis – und ich möchte genau dieses Gefühl im Bild spürbar machen. Dann nutze ich alles, was mir zur Verfügung steht, um dieses Unsichtbare sichtbar zu machen.

Die Beziehung zwischen Mensch und Architektur ermöglicht ungewöhnliche Blickwinkel: Wie wir stehen, wie wir uns bewegen, wo wir uns aufhalten – all das wird durch den Raum beeinflusst. Architektur inspiriert mich auch dazu, neue Arten des Sehens zu entwickeln. Aber nur, wenn ich mich mit einem Gebäude oder Ort wirklich verbunden fühle. Wenn nicht, nehme ich Abstand – denn dann spüre ich: Es wird kein gutes Bild entstehen. Diese Beziehung ist also zugleich ein künstlerischer Dialog und ein Spiegel meiner eigenen Wahrnehmung.

 

In vielen deiner Fotografien stehen Bäume als stille Zeugen im Bildraum. Sie säumen die Strasse («Vue du lieu de promenade, Neuchâtel»), überragen Häuser und umranden Städte («Vue de la ville de Naples depuis Capodimonte»), sie spenden Schatten und Kühle an Haltestellen oder zwischen Häuserzeilen («Nous sommes désolé pour le retard, Bern», «l'attente amoureuse? Paris, France») oder sie spiegeln sich mysteriös in den Verglasungen eines Gebäudes («Jeu d'ombres et de lumières, Neuchâtel»). Sie nehmen also verschiedene Rollen ein und dienen als Schattengeber, als Kontrapunkte zur Architektur oder Reflexionsflächen.

Bild 11: Sylvain Blanchoud, Vue de la ville de Naples depuis Capodimonte, 2016, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 11: Sylvain Blanchoud, Vue de la ville de Naples depuis Capodimonte, 2016, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 12: Sylvain Blanchoud, Nous sommes désolé pour le retard, Bern, 2024, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 12: Sylvain Blanchoud, Nous sommes désolé pour le retard, Bern, 2024, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.

Welche Rolle spielt die Natur in deinen Kompositionen – metaphorisch und gestalterisch?

Bild 13: Sylvain Blanchoud, l'attente amoureuse? Paris, France, 2024, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 13: Sylvain Blanchoud, l'attente amoureuse? Paris, France, 2024, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.

Antwort:

Bäume sind für mich wie stille Zeugen – Wächter, Philosophen, Zeitreisende. Ich habe tiefen Respekt und grosse Bewunderung für sie. Vielleicht liegt das auch an meinem Vornamen – Sylvain, der „Waldmensch“? Wer weiss. Bäume verkörpern für mich Weisheit, Geduld, den unaufhaltsamen Rhythmus des Lebens. Sie erinnern uns daran, dass es Dinge gibt, die grösser sind als wir – und dass nicht alles von uns kontrolliert werden muss.

In meinen Bildern übernehmen Bäume oft die Rolle von Kommentatoren: Sie beobachten, was wir Menschen erschaffen – ganz ohne Urteil, aber nicht ohne Meinung. Manchmal scheint es, als würden sie mir zuflüstern: „Dein Bild ist erst vollständig, wenn ich auch mit dabei bin.“ Ihre Präsenz erdet die Szene. Die Natur insgesamt ist für mich oft der erste Impuls – Quelle der Inspiration, Bühne für das Unerwartete. Und ja, manchmal erkenne ich zu spät, was sich direkt vor meinen Augen abspielte. Dann bedaure ich, dieses Geschenk der Natur nicht festgehalten zu haben. Ohne sie gäbe es für mich keine echte Schönheit, keine Überraschung und Entdeckungen – Und auch die Inspiration hätte einen ganz schönen Dämpfer bekommen.

Welche Rolle spielt Farbe in deiner Fotografie – und wann entscheidest du dich bewusst für bestimmte Farbwelten oder die Fotografien Schwarzweiss zu präsentieren?

Antwort:

Das Verhältnis zwischen Farbe und Schwarzweiss ist für mich eine ständige Frage – und vielleicht gibt es darauf nie eine endgültige Antwort. Ich fotografiere fast immer zuerst in Farbe, weil ich eine tiefe Leidenschaft für ihre Nuancen und Möglichkeiten habe. Ich kann stundenlang an der perfekten Tönung feilen – um genau das Gefühl zu erzeugen, das ich im Bild transportieren möchte.

Ich bin fasziniert vom Farblook alter Kodachrome- oder Fuji-Filme – aber auch von digitalen Looks, wie sie etwa Hasselblad oder Phase One erzeugen. Wenn all das nicht funktioniert, lasse ich mich von Malern inspirieren: Hopper, Vermeer, Van Gogh – ihre Farbwelten helfen mir, Details neu zu denken. Und manchmal, wenn all das nicht greift, entscheide ich mich für Schwarzweiss. Dann wird alles reduziert – auf Struktur, Licht, Emotion.

Wenn ich ganz in Schwarzweiss arbeite, nutze ich am liebsten analoge Technik oder spezielle Monochrom-Sensoren – zum Beispiel von Leica. Das Ergebnis wirkt für mich am authentischsten. Interessanterweise werden meine Schwarzweissbilder in sozialen Medien oft stärker wahrgenommen. Vielleicht, weil sie eine Kraft und Klarheit ausstrahlen, die ich mit Farben nicht immer erreiche.

 

Deine Bilder wirken oft wie sorgfältig komponierte Szenen – fast filmisch. Wie entwickelst du eine Bildkomposition? Lässt du dich treiben oder planst du bestimmte Strukturen im Voraus?

Antwort:

Wenn ich durch den Sucher schaue, zählt für mich zuerst das Zentrum: das Motiv. Ich frage mich, ob es das „wert“ ist – ob es genug Tiefe hat, genug Geschichte. Wenn ja, widme ich mich seiner Umgebung. Ich komponiere das Bild, bis alles stimmig wirkt – aber ohne, dass das Hauptmotiv darin untergeht. Es bleibt der Star.

Ich plane nie. Ich lasse mich vom Motiv führen – es sagt mir, was es braucht. Manchmal sehe ich zu Hause eine andere Version desselben Moments vor mir, die ich draussen so nicht erkannt habe. Aber dieses spontane, instinktive Arbeiten ist genau das, was mich antreibt. Wenn ich einmal planen musste – etwa für einen Auftrag –, fühlte sich das mechanisch an. Die Freude war weg. Das Bild blieb leer.

Bild 14: Sylvain Blanchoud, Jeu d'ombres et de lumières, Neuchâtel, 2022, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 14: Sylvain Blanchoud, Jeu d'ombres et de lumières, Neuchâtel, 2022, Digitale Fotografie, Foto: Sylvain Blanchoud.

Gibt es Fotograf:innen oder Künstler:innen, die dich besonders geprägt oder inspiriert haben? Und inwiefern fliesst diese Inspiration in deine eigene Arbeit ein?

Antwort:

Es gibt vEs gibt viele Fotografen, die mich entweder durch ihre Arbeit im Allgemeinen oder durch ihre Art, die Dinge zu sehen, oder durch ihre Technik geprägt haben. Es gibt natürlich die Klassiker wie Cartier-Bresson, Doisneau, Lange, Kapa, Maier und neuere wie Meyerowitz oder Mccurry. Ich habe eine Schwäche für den Fotografen Allan Shaller, der chronologisch gesehen ein wenig aktueller ist als die anderen. Es gibt auch Bilder, die ich nie vergessen werde und die mich dazu gebracht haben, die Fotografie zu entdecken und zu lieben. Oft sind es historische Bilder. Das Bild des republikanischen Soldaten im Spanischen Bürgerkrieg, das Bild von Robert Kapa während der Landung, das Bild eines Gefangenen, der während des Vietnamkriegs von einem Polizeikommissar aus nächster Nähe erschossen wurde, oder das Bild eines kleinen Mädchens, das nach dem Ausbruch des Nevado Del Ruiz in Kolumbien in den 1980er Jahren von der Erde gefangen gehalten wurde.

Und ich vergesse so viele. All diese Genies haben mich gelehrt, dass man neugierig, offen, entdeckungsfreudig, einfach nur liebenswert, reisefreudig, staunend sein muss, selbst und vor allem über die einfachsten Dinge, und sich so lange wie möglich seine kindliche Seele bewahren muss. Auf seine Seele, seine Sinne und sein Herz zu hören, um so viel wie möglich zu sehen.

 

Sylvain, vielen herzlichen Dank für deine Zeit und deine offenen, bewegenden Antworten!

 

Mit offenen Augen durch die Welt

Bild 15: Sylvain Blanchoud, Portrait. Foto: Sylvain Blanchoud.
Bild 15: Sylvain Blanchoud, Portrait. Foto: Sylvain Blanchoud.

Das Gespräch mit Sylvain Blanchoud zeigt eindrucksvoll, wie vielschichtig und reflektiert seine fotografische Arbeit ist. Ob Bewegung und Stille, Licht und Schatten, Architektur oder Natur – seine Bilder erzählen von Momenten der Konzentration, des Innehaltens und der feinen Wahrnehmung. Sie laden dazu ein, die Welt mit neuen Augen zu sehen: poetisch, aufmerksam und mit Respekt für das Kleine wie das Grosse. Wer seine Werke betrachtet, begegnet nicht nur einer Szenerie, sondern auch einem inneren Zustand – und vielleicht auch einem Teil von sich selbst. 

Entdecken Sie weitere Werke von Sylvain Blanchoud auf seinem Profil bei art24 – und lassen Sie sich inspirieren von Bildern, die Geschichten erzählen.

 


Autor:in: Yvonne Roos

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