Auf den Spuren der #Giacomettis
Lea Kämpf
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05.10.2025
·
14 min Lesezeit

Kurze Zusammenfassung

Nirgendwo kann man Künstlern und Künstlerinnen so nah sein wie beim Besuch ihrer Ateliers und ihrer Lebensorte. In diesem Blog begeben wir uns auf die Spuren der wohl berühmtesten Schweizer Künstlerfamilie: der Giacomettis – insbesondere Alberto und Giovanni Giacometti.

 

Tiefe Wolken hängen im Tal von Bergell, Bregaglia. Vor einem alten hölzernen Haus im kleinen graubündnerischen Dorf, Stampa, hat sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Es sieht nach einem augenscheinlich unscheinbaren Holzchalet aus. Scheinbar unscheinbar. Und doch geprägt von einer solchen Wichtigkeit: Ein Dorf und ein Haus, welches die bekannteste Schweizer Malerfamilie hervorbrachte: die Giacomettis.

Der berühmteste Schweizer Künstler stellt wohl Alberto Giacometti dar. Wer sich mit der Kunst auseinandersetzt, kommt an diesem unverwechselbaren Namen nicht vorbei. Der über Nacht zum Millionär gewordene Maler und Bildhauer scherte sich selbst nie um seinen Ruhm. Geprägt wurde er unmittelbar durch seine Familie, die aus ebenso bedeutenden Künstlern bestand.

Sein Vater, Giovanni Giacometti, war mit der wichtigste Vertreter und Vorreiter der nachimpressionistischen Malerei. Er wurde in jenem kleinen Ort in Graubünden geboren, besuchte hier die Grundschule und war der erste in der Familie, der sein künstlerisches Können zum Beruf machen durfte. Auch sein Cousin, Augusto Giacometti, folgte später seinem Beispiel und wurde ebenso Maler.

Es ist eigentlich bemerkenswert, dass ein so kleines Dorf in Bregaglia, Maloja, so grosse Künstlernamen hervorbrachte. Eine einzige grosse Autostrasse führt zwischen den alten Holz- und Steinhäusern hindurch. Links davon fliesst der Fluss Meira. In der Weite sind die mächtigen Berge des Bergells zu erblicken. Nicht mehr und nicht weniger, aber das ist Stampa.

Auf der anderen Strassenseite, gegenüber dem hölzernen Haus, steht das frühere Wohnhaus der Familie, das heute das Centro Giacometti, ein Kulturzentrum, beherbergt.

 

Einblicke in das Atelier von Alberto und Giovanni Giacometti in Stampa, Bergell

Atelier von Giovanni und Alberto Giacometti (links) und ehemaliges Wohnhaus der Giacomettis, heute das Centro Giacometti, (rechts) in Stampa
Atelier von Giovanni und Alberto Giacometti (links) und ehemaliges Wohnhaus der Giacomettis, heute das Centro Giacometti, (rechts) in Stampa

Eine Frauenstimme ertönt, und die kleine Menschensammlung spitzt ihre Ohren: „So, nun stehen wir vor dem Atelier der Giacomettis“. Der Blick fällt auf die steinerne Wand im Untergeschoss des Hauses auf das Nummernschild 1, welches die Inschrift „Gassa Alberto Giacometti“ trägt. Eine Steintreppe führt hinauf in das grosse helle Atelierzimmer. Beim Betreten des Ateliers herrschte eine ganz besondere Atmosphäre. Nirgendwo fühlte man sich den Giacometti-Künstlern, Giovanni und Alberto, so nah wie hier.

Die Atelierführerin, Menga Negrini, begrüsst die Gruppe herzlich. Einer ihrer ersten Sätze lautet: «Ich erzähle euch heute über die Giacomettis, ein paar Dinge, die vielleicht anders sind, als ihr sie kennt. Ich habe (Alberto) Giacometti noch persönlich gekannt.»

Und tatsächlich: Die Frau von Giovanni Giacometti, Annetta Stampa, war die Cousine von Negrinis Grossmutter. Als kleines Mädchen hat sie wohl so manchen Klatsch und Tratsch aus der Giacometti Familie mitbekommen.

Beinah im zweiten Atemzug bittet sie die Besucher und Besucherinnen, sich hinzusetzen zu können, falls sie möchten. Entlang der grossen Fensterfront neben dem Eingang existieren Holzbänke, die zum Sitzen einladen. Rechts steht ein grosser Arbeitstisch mit einer blauen Vase (nicht original) mit getrockneten Zweigen der Lampionblume (Physalien), einem Coca-Cola-Aschenbecher und einer Mischplatte mit zahlreichen Farbtuben darauf. Ja, Alberto mochte die Physalien. Es ist also nicht inszeniert. Auch die gebrauchten Tuben und die Farbpalette sind original! Auf der linken Seite der Tür steht ein Korbstuhl und ein niedriger Tisch, die ebenfalls original sind.

 

Einblicke in das Atelier: Auf Arbeitstisch und Fensterfront
Einblicke in das Atelier: Auf Arbeitstisch und Fensterfront

Für mich als Kunstkonservatorin- und Restauratorin klingt der Gedankte zunächst erschreckend, dass ich die realen Gegenstände des Künstlers berühren und beim Herabsitzen sogar «benutzen» dürfte. Während sich einige Personen tatsächlich hinsetzten, bewahrte ich den Abstand zu dem Tisch, zum Bett, zu der mitten im Raum stehenden Staffelei, den Tischen und Schränken. Während die meisten Möbel zu den Lebzeiten der Giacomettis genauso im Atelier standen, gehören einige Gegenstände wie das Bett oder die Lampe ursprünglich nicht hierher, stammten aber direkt aus dem Wohnhaus der Giacomettis. Auch hätte es einen Ofen gegeben, der heute aus Platzgründen aber nicht mehr eingebaut ist.

Aus Ehrfurcht und Respekt vor den hier ehemals arbeitenden Künstlern traue ich mich nicht, etwas anzufassen. Hier in dieser schönen alten hölzernen Hütte, haben sie beide, Vater und Sohn, ihre kreativen Gedanken freien Lauf gelassen. An den Wänden finden sich Farbspuren und Skizzen wieder. Der Boden und die Tischplatte sind voll von Abdrücken ausgedrückter Zigarettenstummeln und Zündhölzern ... Oh ja, Alberto war ein schwerer Raucher!

Einblicke in das Atelier: Auf Staffelei, den hinteren Raum sowie die erhaltenen Malereien
Einblicke in das Atelier: Auf Staffelei, den hinteren Raum sowie die erhaltenen Malereien 

Ein Kettenraucher und ein Perfektionist … Er sei streng mit seinen Modellen gewesen. Am Abend hatte er am Boden die Füsse seines Malerhockers und dem für sein Modell mit Farbe umrandet, so dass er die Stühle am nächsten Tag genauso wieder hinstellen konnte.

Lässt man den Blick weiter ins Atelier schweifen, vorbei am Arbeitstisch und der Staffelei, wandert der Blick in das hintere Zimmer. Davor steht eine Kommode, die Giovanni Giacometti, beeinflusst von seiner Italienreise, mit sakralen Bildern, darunter Szenen von Adam und Eva sowie der Verkündung von Maria, bemalte. Das Besondere an diesen Malereien sei, dass es die einzigen erhaltenen sakralen Bilder von Giovanni G. sind.

Die Kommode diente als Aufbewahrung von Malutensilien. Heute sind noch die echten Pinsel und gebrauchten Farbpaletten von Giovanni und Alberto Giacometti zu bestaunen. Die Pinsel soll Alberto in Paris gekauft haben. Dabei soll er immer auf die beste Qualität geachtet haben, auch wenn sie ihren Preis hatte, obwohl er sich sonst wohl nie für Luxus interessiert haben soll. Zu Beginn stellte auch Alberto seine Pigmente selbst her, später kaufte er fertige Farben.

 

Kommode mit den originalen Farbutensilien beider Künstler sowie den erhaltenen sakralen Bildern von Giovanni G.
Kommode mit den originalen Farbutensilien beider Künstler sowie den erhaltenen sakralen Bildern von Giovanni G.

Neben den Farbmaterialien stehen Fotos der Giacometti-Familie. Eines sticht dabei besonders hervor: das Familienbild, auf dem Giovanni Giacometti mit seiner Frau, Annetta, und seinen drei Söhnen, Alberto, Diego und Bruno, sowie seiner Tochter Ottilia zu sehen ist. Während Giovanni liebevoll zu seinen Kindern herabblickt, schauen sich Annetta und Alberto direkt an. Ein Sinnbild für die enge Beziehung zwischen Sohn und Mutter, die anscheinend eine sehr starke Verbindung miteinander teilten.

Einblick in das Atelier: Pult und Feldstaffelei
Einblick in das Atelier: Pult und Feldstaffelei
Einblick in das Atelier: Arbeitstisch mit Architekturplänen von Giovanni G. und Druckmaschine
Einblick in das Atelier: Arbeitstisch mit Architekturplänen von Giovanni G. und Druckmaschine

Vor den Fenstern steht ein Pult, das ursprünglich im Wohnhaus stand. In der Zimmerecke steht eine Feldstaffelei, die, erkennbar an den eingebrannten Initialen, Giovanni Giacometti gehörte, später aber auch von Alberto genutzt wurde. Über der Staffelei hängt ein (Gips?)Abguss von Auguste de Niederhäusern, bekannt als Rodo, einem Malerkollegen von Giovanni und ein Geschenk dieses Freundes. Eine schwarzweisse Lithografie, die die Schweizer Alpenkulisse zeigt, sowie eine alte Druckmaschine stellen eine Hommage an die damalige Kriegszeit dar. Eine Zeit, in der kaum jemand Malereien von Künstlern oder Künstlerinnen leisten konnte. So stellte Giovanni G. Lithografien des Bergeller Bergpanoramas für Hotels her und konnte so einige Verkäufe erzielen.

Ein weiterer eleganter Tisch, ehemals aus der Wohnung, vervollständigt das hintere Zimmer. Dazu gehört eine wunderschöne gelbe Lampe, die auch in Interieurs-Szenen oder Stillleben beider Giacomettis malerisch verewigt wurde. Auf dem Tisch liegen alte Architekturpläne von Giovanni. Er hatte sich aus dem alten Stall nach eigenen Entwürfen sein Wunschatelier geschaffen.

 

Einblicke in das Leben von Giovanni Giacometti

Das zeichnerische Talent von Giovanni wurde schon in seiner Jugendzeit an der Kantonsschule in Chur entdeckt. Daraufhin besuchte er mit der Erlaubnis seiner Eltern die Kunstschule in München, wo er den Maler Cuno Amiet kennenlernte, mit dem er eine langjährige Freundschaft verband. Nach zwei Jahren in München reisten sie beide nach Paris, wo sie zusammenwohnen und in denselben Räumen malten. Der Blog «Künstler:innen beeinflussen Künstler:innen Teil 2: Von Paris nach Berlin» geht kurz auf die besondere Freundschaft der beiden Künstler ein.  

Das Leben in der französischen Hauptstadt brachte jedoch seine Kosten mit sich, die sich Giovannis Familie nicht mehr leisten konnte, sodass Giovanni unfreiwillig sein Kunststudium und Leben in Paris beenden musste. Er kehrte nach Stampa zurück. Unglücklich versuchte er durch eine Reise nach Italien, sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Während Giovanni Giaocmetti Einflüsse der italienischen Renaissancemalerei erlebte, erzählt ihm Cuno Amiet von den Impressionisten. Aus den Erzählungen versuchte er sich selbst in der impressionistischen Malweise. 1894 traf er den Künstler Giovanni Segantini. Diesem gelang es, Giovanni wieder zu motivieren. Der autodidaktische Künstler soll ihm - wohl so oder so ähnlich - gesagt haben, dass er ja immerhin vier Jahre Kunstunterricht genossen habe. Also mehr als Segantini selbst. Das malerische Können hängt schliesslich nicht davon ab, ob man studiert ist oder nicht.

Mit diesem Gedanken blühte Giacometti förmlich wieder auf. Er begann, Alpen- und Berglandschaften in einer Strichmaltechnik zu malen und liess seine Bilder vom Licht bestimmen. Ein perfektes Beispiel für seine wunderschöne Bergmalerei stellt das Werk «Pizzo Bacone» dar, welches einen Teil der Bergeller Bergen zeigt. Das Gemälde entstand unmittelbar in der Nähe seines Geburts- und Wohnortes, Stampa. 

1900 heiratet der Maler Annetta Stampa, die Tochter seines früheren Lehrers, ein strenger Mann. 1906 erwarb Giacometti neben dem gemeinsamen Wohnhaus einen Stall, den er nach eigenen Plänen zum Atelier umbaute. Es kamen grosse Fenster hinein, Holzverkleidungen und eine Gaslampe wurden angebracht. Die Decke erreichte eine Höhe von vier Meter. Der hintere Raum im Atelier erhielt auf Rat Amiets eine tiefere Decke, um Heizkosten zu sparen. Insgesamt soll der Umbau rund 1'000 Franken gekostet haben.

Ab 1950 nutzt Giovanni Giacomettis ältester Sohn, Alberto, das Atelier. Nach Alberto Giacomettis Tod, verlor das Atelier sein Nutzen und blieb für die nächsten 50 Jahre geschlossen.

Heute kann das Atelier, das anhand von alten Fotografien möglichst originalgetreu wiederhergestellt wurde, nur im Rahmen von privaten Führungen besichtigt werden. 

Beide Giacometti-Künstler hinterliessen Spuren im Atelier, die bis heute erhalten geblieben sind und bewundert werden können.

 

Einblick auf den Friedhof mit den Gräbern der Familie Giacometti

Auf dem Weg ins nächstgelegene Dorf Borgonovo liegt der Friedhof, auf dem die Giacometti-Familie begraben ist. Ein steiniger Weg führt die Anhöhe hinauf zur hellen Kirche. Ein grosses Gittertor öffnet den freundlich wirkenden Friedhof für Besucherinnen und Besucher.

Blick auf die Kirche und dem Eingang des Friedhofs von Borgonovo
Blick auf die Kirche und dem Eingang des Friedhofs von Borgonovo

Begibt man sich auf die rechte Seite, finden sich schnell die Gräber der Familie. Hier ruhen Giovanni Giacometti (1868-1933), pittore (dt. Maler), mit seiner Frau, Annetta Giacometti Stampa (1871-1964), gemeinsam mit dem jüngsten Sohn Bruno Giacometti (1907-2012) und dessen Frau Odette Giacometti (1910-2007).

Der sechseckige Grabstein auf dem Familiengrab wurde von Alberto Giacometti persönlich entworfen. Ein paar Gräber weiter liegt Alberto (1901-1966), scultore pittore (dt. Bildhauer, Maler). Die Gedenktafel wurde von seinem jüngeren Bruder Diego (1902-1985), scultore (dt. Bildhauer), gewidmet, der direkt dahinter, begraben ist.

Diego verfolgte seinen älteren Bruder auf Schritt und Tritt - nach Paris, nach Genf - und diente ihm als getreuer Assistent. Er war selbst künstlerisch tätig, doch ein wirklicher Durchbruch gelang ihm nie. Stattdessen verdanken wir ihm, dass viele Kunstwerke von Alberto erhalten blieben. Alberto war sehr selbstkritisch und arbeitete stunden-, wenn nicht tagelang an seinen Skulpturen. Mit jedem Arbeitsschritt trug er Material für Material von seinen Gipsfiguren ab, bis irgendwann kaum noch etwas übrigblieb, um dann wieder von vorne zu beginnen.

«Der arme Alberto! Alles, was er (in den fünf Jahren) in Genf gemacht hat, hat Platz in 15 Holzschachteln», rief Menga Negrini aus, so habe man sich in der Familie erzählt.

Er sei wohl nie wirklich zufrieden gewesen und stets auf der Suche nach dem «Richtigen» gewesen. Dennoch bewahrte Diego einige Figuren auf und organisierte eine Ausstellung, die Alberto über Nacht den Ruhm einbrachte. Während man Albertos Kunst in Paris noch verschmähte wurde, war sie nun innerhalb weniger Tage ausverkauft. Ab diesem Moment war alles, was Alberto schuf, gefragt.

An derselben Steinmauer, nicht weit von Diegos Grab entfernt, befinden sich die Gräber von Schwester Ottilia Berthoud-Giacometti (1904-1937), ihrem Ehemann Francis Berthoud (1894-1959) und dem gemeinsamen Sohn, Silvio Berthoud (1937-1991), der am gleichen Tag wie Alberto (10. Oktober) geboren wurde. Ottilia verstarb kurz nach der Geburt ihres Sohnes im Alter von nur 33 Jahren. Die Mutter, Annetta Stampa, zog daraufhin nach Genf, um den kleinen Silvio grosszuziehen.

Auch der Maler und der Cousin von Giovanni G., Augusto Giacometti (1877-1947), liegt auf demselben Friedhof begraben. Ihm zu Ehren wurde die schöne Inschrift «Qui riposa il Maestro del Colori» gewidmet - zu Deutsch: «Hier ruht der Meister der Farben».

Gräber von Giovanni G. mit Familie, Alberto G. und Diego D., Ottilia G. mit Familie sowie Augusto G.
Gräber von Giovanni G. mit Familie, Alberto G. und Diego D., Ottilia G. mit Familie sowie Augusto G. 

Hier, zwischen Stampa und Borgonovo, vor der Kulisse des wunderschönen Bergeller Bergpanoramas, ruht nun die grosse Giacometti-Künstlerfamilie.

Es sind Orte, an denen so viel Geschichte geschrieben wurde. Ein Ort, der Anfang und Ende grossartiger Künstler birgt.

 

Während der Blog einige spannende Anekdoten über die Giacomettis, erfahren von Menga Negrini, preisgibt, werden bei der Atelierführung vor Ort noch viele weitere Details erzählt, die in diesem Rahmen nur angerissen sind.

 

Nachweise:

 

Titelbild Blog: ©Charlotte Kämpf


Autor:in: Lea Kämpf

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